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Noli flere
Heribert Ester (C) 1977

1.

 

"Mein Gott! Warum gerade ich?" war beim Aufwachen sein erster Gedanke. Und als er sich umsah in dem Raum, in dem er sich erschrocken wiederfand, sah er nur wenige Meter von sich in einem anderen Bett Michael, seinen Sohn, liegen, und der war, das konnte sogar er als Laie erkennen, weitaus schlimmer dran als sein Vater: Infusionen, Gipsverbände, das ständige EKG, nur das Gesicht war frei von jeder Bandage, der Kopf jedoch war dann wieder umwickelt wie bei einer Mumie. Eine Krankenschwester saß an seinem Bett und achtete ständig auf den Pegelausschlag des Instrumentes, das die Herztätigkeit des Jungen wiedergeben sollte. Der Junge schlief. Oder war er bewußtlos? "Schläft er?" fragte der Vater die Schwester, die noch nicht bemerkt hatte, daß der Mann wieder zu sich gekommen war.
"Ja." sagte sie, doch ein Vater merkt es, wenn ihm nicht die Wahrheit gesagt wird. Und gerade bei dieser Antwort konnte er in den Augen der Krankenschwester jene Unruhe bemerken, die er schon von seinem Sohn her kannte, wenn dieser versuchte, etwas zu verbergen oder sich um eine Antwort zu drücken, wie das bei einem Jungen in diesem Alter hin und wieder schon einmal vorkommt. Erst neulich noch! Da war ihm doch beim Abendessen, als er ein Taschentuch aus der Hosentasche zog, eine Schachtel Zigaretten mit herausgekommen und zu Boden gefallen. "Was haben wir denn da?" hatte damals der Vater sofort gefragt, und ohne Zögern war sofort die Antwort parat: "Die sollte ich für morgen unserem Lehrer mitbringen." Doch in seinen Augen war diese Unruhe, die diese Antwort nicht überzeugen ließ. Und im weiteren Gespräch war dann herausgekommen, daß der Lehrer gar nicht rauchte und diese Schachtel lediglich dazu gedacht war, die verheerende Wirkung des Nikotins einmal zusammen mit den Freunden auszuprobieren. "Nikotin ist ein Gift , das – ja, wie soll ich das sagen – das den Körper von innen her zerfrißt, ihn mürbe und dann später sogar von sich abhängig macht!"
"Ist schon gut. Sie sind noch sehr schwach und sollten jetzt vor allen Dingen nicht sprechen!" kam vom anderen Bett her die Schwester auf ihn zu, schüttelte ihm das Kopfkissen auf und zog die Decke gerade. "Möchten sie etwas trinken?"
"Ja, darf ich denn? Gerne!"
Doch, sie können ruhig trinken und essen. Sie haben keine inneren Verletzungen. Wohl ein paar Brüche in den Beinen, aber das werden wir schon wieder geradebiegen." Währenddessen hatte die Schwester ein Glas Tee besorgt und es ihm an den Mund geführt. Dieses bißchen Flüssigkeit war eine Wohltat für seinen ausgetrockneten Hals. "Sagen sie, Schwester, wie lange liegen wir schon hier?"
"Nun, sie waren gut 24 Stunden ohne Bewußtsein; kein Wunder bei solchen Brüchen. Wir hatten sie eigentlich jetzt noch gar nicht zurückerwartet."

"Und der Junge?"

"Sie müssen sich jetzt vor allen Dingen schonen sie sind noch sehr schwach. Sie hatten einen Unfall, müssen sie bedenken!"

"Was ist mit dem Jungen?"

"Ja, der ist noch gar nicht zu sich gekommen, bis jetzt. Aber das wird auch noch werden, glauben sie mir, ich habe da Erfahrung. Er ist doch sehr kräftig. Der wird's schon schaffen!"

Wirklich, kräftig ist er. Was der nicht schon alles geschaft hat. War in seiner Freizeit meist draußen. Bei Wind und Wetter. Oft kam er richtig durchnäßt nach Hause, so daß seine Kleider ihm am Leibe klebten, sehr zum Kummer seiner Mutter. Doch nie, daß er deshalb mal eine Grippe bekommen hätte. Ganz das Gegenteil von seiner Schwester Wenn er vor Jahren mal nicht zu finden war, war er sicher am Bach, der hinter den letzten Häusern vorbeifloß, oder in der Baumhütte, die er mit seinen Freunden gebaut hatte. In der letzten Zeit ging es mehr mit dem Fahrrad von einer Ecke der Stadt in die andere. Kilometer verschlingen, nannte er das. Und dann Fußball, in jeder freien Minute. Und doch, der schlechteste in der Schule war er nicht. Ihm flog das alles so zu, ohne daß er sich groß hätte anstrengen müssen. Er mußte sich nie quälen beim Lernen, nie quälen...

Der Mann war wieder eingeschlafen, neben seinem Jungen, in jenem fremnden Zimmer.

 

2

 

Als er wieder aufwachte, war der Junge nicht mehr da. Nein, er selbst war jetzt in einem anderen Zimmer, zusammen mit anderen Kranken. "Wo ist mein Junge? Was ist mit meinem Jungen?" stammelte er. Über der Tür des Raumes leuchtet nun eine gelbe Lampe auf. Einer seiner Bettnachbarn hatte die Schwester gerufen.

"Wo ist mein Junge? Was ist hier eigentlich los?" überfiel er die eintretende Schwester. "Sehen sie! Wo sie vorher lagen, das war die Intensivstation. Das ist aber jetzt bei Ihnen nicht mehr nötig. Sie sind jetzt auf einem gewöhnlichen Krankenzimmer."

"Und mein Sohn?"" unterbrach er sie. "Sie müssen mich auch ausreden lassen. Alles auf einmal kann ich Ihnen nicht erklären. Ihr Sohn wird zur Zeit in eine Spezialklinik gebracht, weil er dort besser behandelt werden kann. Sie haben jetzt Ihre Beine in Gips, und wenn sie nicht eigenmächtig handeln, können sie in ein paar Tagen das Bettverlassen. Sie hatten schon großes Glück, im Vergleich mit anderen Unfällen dieser Art. Übrigens, Ihre Frau ist draußen. Ich hatte ihr versprochen, sie zu Ihnen zu lassen, sobald sie wieder wach wären. Möchten sie sie sehen?"

"Oh, ja, gern!"

Die Schwester schüttelte das Kopfkissen auf, strich die Bettdecke glatt und verließ den Raum. Herein kam dafür seine Frau, Tränen in den Augen, Blumen in der Hand. Sie sah sehr mitgenommen aus.

"Martha, komm her! Ich habe auf dich gewartet."

"Mag sein, aber die Schwester wollte mich erst zu dir lassen, wenn Du wieder wach wärest. Sie hatte Angst, ich hätte dich wecken können. Wie fühlst Du dich?"

"Wie soll ich mich fühlen, wenn ich nicht weiß, was mit meinem Jungen ist. Niemand giebt mir eine vernünftige Auskunft. Hast Du was gehört? Hast Du ihn gesehen?"

"Ja, ich habe. ihn gesehen, kurz bevor sie ihn in die Spezialklink gebracht haben. Er war noch nicht zu Bewußtsein gekommen, aber er lebt. Der Doktor sagte, wir müßten jetzt vor allen Dingen Geduld haben und abwarten, bis er das Bewußtsein wiedererlangt hätte. Dann könnte man mehr sagen. Aber Du bist, Gott sei Dank, nicht so schlimm dran. Das ist auch ein Trost. Also wenn ihr beide..." doch sie kam nicht weiter. Und sie schauten sich an, mit feuchten Augen, und schwiegen und dachten doch an dasselbe.

 

3.

 

So vergingen Tage der Ungewißheit. Der Junge war noch immer ohne Bewußtsein, auch wenn das Herz regelmäßig und kräftig schlug. Sein Vater war inzwischen, wenn auch mit Gips an den Beinen, entlassen worden, und so standen seine Eltern wie schon oft vorher am Bett des Jungen, um seinem heimtückischen Schlaf zuzusehen. Diesesmal kam ein Arzt hinzu: "Sind sie die Eltern?"

"Ja. "

"Nun, sie sehen ja selbst. Der Puls ist einigermaßen kräftig, doch das Bewußtsein hat er noch nicht wiedererlangt. Das ist an sich noch nichts Beunruhigendes, doch zugegeben, es wäre uns allen geholfen, wenn sich das bald ändern würde."

"Herr Doktor, sagen sie," fragte nun der Vater, "welche Art von Verletzung hat er denn eigentlich? Eine klärende Antwort haben wir bislang noch von niemandem bekommen!"

"Ja! Sie sehen den Verband um seinem Kopf. Das war wohl der Aufprall gegen die Windschutzscheibe. Keine großen Verletzungen! Eine Platzwunde und natürlich auch eine Gehirnerschütterung und wohl der Grund für die Bewußtlosigkeit. Was uns mehr Sorgen macht, ich meine, Ihnen kann ich es doch sagen..."

"Oh, ja bitte!"

"Was uns mehr Sorgen macht, ist die Schnittwunde am Bauch, keine sehr tiefe, doch Bauchverletzungen haben immer ihre Tücken. Ihr Sohn ist bei dem Aufprall also zunächst mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe gestoßen, wodurch diese zerbrach, ist dann wohl etwas weitergeschleudert worden und mit dem Bauch in einer stehenden Scherbe liegengeblieben. Wieso sie soviel mehr Glück hatten, weiß der Himmel. Vielleicht hatten sie den Unfall kommen sehen und sich irgendwie am Steuerrad festhalten können und sind nur mit den Knien irgendwo gegengestoßen."

"Ich weiß es nicht mehr," seufzte der Vater, "aber es wird so gewesen sein, wie sie sagen."

"Auf alle Fälle," fuhr der Arzt fort, ,,können sie sicher sein, daß wir alles für Ihren Sohn tun, was in unserer Macht steht."

Und so lag er da, der Junge. Ruhe über seinem Gesicht. Der Arzt war gegangen, und die Eltern blieben bei ihrem Kind. Nur wie von ganz ferne sah eine Schwester durch ein Fenster in das Zimmer der Intensivsation. Die anderen Betten bemerkten sie gar nicht. Sie saßen da, vor dem Bett ihres Kindes, schweigend.

"Herr, wenn Du willst, kannst Du ihn wieder gesund machen," dachte verzweifelt der Vater. "Er ist auch dein Sohn. Mach ihn bitte wieder gesund. Du weißt doch, wie seine Mutter und ich an ihm hängen."

Und während der Vater noch in seinem Gebet vertieft war, schlug der Junge die Augen auf.

"Sieh doch nur," rief die Mutter, die von alldem nichts wußte, "der Junge hat die Augen geöffnet! Sieh doch nur! Er ist wach!"

Der ,Vater konnte es nicht glauben, sah aber, daß es Wirklichkeit war und flüsterte unhör-bar ein "Danke". Sie winkten die Schwester herbei, und die, kaum daß sie es gesehen hatte, holte den Arzt.

"Nun, sie sehen ja selbst," kam dieser in den Raum zurück, "ich habe Ihnen ja gesagt, daß alles gut wird." Und zu dem Jungen gewandt: "Nun, mein Sohn, wie geht es uns denn?"

"Wo bin ich hier eigentlich?"

"Im Krankenhaus," antwortete ihm seine Mutter, die jedoch jäh von dem Arzt unterbrochen wurde. "Lassen sie mich das mal machen! Hast du irgendwelche Schmerzen, tut dir irgendetwas weh?"

"Ja, der Bauch. Was ist mit meinem Bauch?"

"Sie sehen ja selbst," wandte sich der Arzt wieder an die Eltern, "ich glaube, jetzt gehört er erst einmal mir. Sie wissen ja wie gut es ist, daß er das Bewußtsein wiedererlangt hat. Sie können ihn ja morgen wieder besuchen."

Und der Arzt war zur Tür gegangen und hatte sie geöffnet, in der Art, wie man jemanden verabschiedet. Völlig erschrocken über diese seltsame Haltung brachten die Eltern nur noch ein kurzes "Auf Wiedersehn" und ein "Bis Morgen" heraus und verließen enttäuscht den Raum.

 

4.

 

Am nächsten Tag sah der Junge schon viel besser aus. Er hatte keine Schmerzen mehr, weil der Doktor ihn nun zielgerecht hatte behandeln können, und er durfte etwas aufrecht im Bett sitzen. Nur aufstehen durfte er noch nicht. Auch war er noch an den Tröpfler angeschlossen, doch was soll's, seine Eltern waren glücklich. Und er konnte nun endlich erfahren, woran es eigentlich lag, daß er ans Bett gebunden war. Sein Vater erzählte ihm von dem Unfall, wie ein anderer Fahrer die ,Vorfahrt genommen hatte und er nicht mehr rechtzeitig hatte bremsen können.

"Was ist denn mit dem anderen Fahrer?" fragte der Junge.

"Du, – das – das weiß ich gar nicht," antwortete zögernd sein Vater. "Ich war nämlich auch einen Tag lang bewußtlos," fügte er voll Stolz hinzu, merkte aber schnell, wie dümmlich diese Reaktion gewesen war. "Ich hoffe, ihn hat's nicht so schlimm erwischt wie dich."

"Wieso, bin ich denn schlimm dran?"

"Ja hör mal," kam seine Mutter dazwischen, "Du hattest den Bauch auf und eine schwere Gehirnerschütterung. Du darfst ja jetzt noch nichts essen, und da stellst Du so eine Frage. Aber komm, du darfst jetzt noch nicht soviel reden. Laß uns einfach hier sitzen und uns freuen, daß wir alle da sind. Und morgen können wir ja auch Angela einmal mitbringen. Die ist nämlich zur Zeit bei der Oma. Sie fragt immer nach dir."

Ja, das kleine Mädchen war immer so stolz auf ihren Bruder. Er sei so stark und würde alles für sie tun, erzählte sie allen, die sie nach ihrem Bruder fragten. Sie war richtig verliebt in ihn und deshalb gar nicht zu beruhigen gewesen, als sie von dem Unfall gehört hatte. Erst bei der Dma hat sie sich dann richtig ausweinen können. Sie hatte es einfach nicht glauben wollen, daß ihr starker Bruder ins Krankenhaus mußte. Aber was kann so ein kleines Mädchen auch schon von einem Unfall verstehen! Ach, wer kann das überhaupt! Einen Blinddarm, gut, den gibt es eben, oder die Mandeln, die müssen eben bei diesem oder jenem heraus, aber diese vielen Verkehrsunfälle? Nichts kann man dagegen tun! Nur gut, daß es nicht seine Schuld war. Er könnte wohl nie wieder jemals glücklich sein, wenn er die Schuld daran getragen hätte, daß sein Kind unter Umständen ein Krüppel blieb.

"Oh Gott! Es wird doch hoffentlich nichts zurückbleiben!"

"Was ist?" fragte erstaunt ihr Mann. "Du meinst bei dem Jungen? Du hast doch gehört, was der Arzt gesagt hat. Es wird alles gut werden!"

Der Junge war müde und einfach eingeschlafen und hatte von alldem nichts mitbekommen. Sie waren froh darüber.

"Jet zt fang Du noch an, dir Sorgen zu machen! Ach Martha, glaub mir doch, es wird alles gut werden." Und er sagte das in einer Art, die überzeugen konnte, denn er glaubte selbst fest daran.

 

5.

 

Die Tage vergingen, und der Junge machte große Fortschritte. Nun stand es endgültig fest, daß er nichts von dem Unfall zurückbehalten würde. Nur eben aufstehen durfte er immer noch nicht, damit die Wunde nicht wieder aufplatzen konnte. So hatte es der Arzt den Eltern gesagt, und so sagten es stolz die Eltern weiter an ihr Kind.

"Du wirst sehen, Michael," freute sich die Mutter, "in ein paar Wochen bist Du wieder draußen. Wie ich mich darauf freue!"

"Wie lange muß denn eigentlich – ha-ach – Papa seinen Gips noch tragen?" wollte darauf der Junge wissen.

Und die Eltern bemerkten nicht jenes kurze Husten, das typisch ist für Krankenzimmer, in denen jemand lange liegt. Sie beachteten auch nicht, daß der Junge blasser war als sonst. Sie waren voll Freude, daß sie ihr Kind bald wieder mit nach Hause nehmen würden. Sie waren glücklich und bemerkten es nicht, wie Freude und Glück sie blind und taub machten. Und so beantworteten sie seine Frage gern und genossen die eine Stunde Besuchszeit Tag für Tag.

Und der Junge wurde blasser Tag für Tag, und schwächer, und auch der Arzt hatte ihn wieder öfter besucht als vorher, die Schwester brachte ihm wieder mehr Medikamente und alle zwei Stunden das Thermometer. Und die Luft im Raum war dunstiger. Auch der Junge merkte, daß irgendetwas im Gange war, was mit seinem Unfall sicher nicht in direktem Zusammenhang stand.

"Och, das ist nur eine kleine Erkältung. Hast vielleicht Zug abbekommen oder warst nicht richtig zugedeckt," erklärte ihm die Schwester. Und auch den erschreckten Eltern gab sie am Bett des Jungen diese Auskunft. Doch der Vater hatte ihre Augen gesehen und ging nach dem Besuch bei seinem Jungen zu ihr und fragte sie.

"Schwester, bitte sagen sie mir die Wahrheit! Was ist mit dem Jungen?"

"Ich habe Ihnen doch schon vorhin gesagt," sie wollte mit der Wahrheit nicht heraus, "daß es wahrscheinlich eine Erkältung ist."

"Und was kann es," fragte er, die Antwort wohl wissend, weiter, "bei einem Patienten, der seit Wochen liegt und das Bett nicht verlassen darf, auch noch sein?"

"Nun, es könnte auch eine Lungenentzündung sein. Doch da fragen sie besser den Doktor selbst. Ich kann Ihnen da keine weitere Auskunft geben."

Nun war die Gewißheit da. Sie stand im Raum wie eine drohende Macht, gegen die niemand etwas ausrichten konnte. Alles war doch so gut gelaufen, und dann dieses.

Das Leben kann schon grausam sein. Wie ein Peiniger setzt es Hoffnung und läßt sie zur Gewißheit anwachsen, um dann mit der um diese Hoffnung gesteigerten Wollust den Lauf in die entgegengesetzte Richtung zu wenden. Wie eine Katze, die ihr Opfer erst noch zwischen ihren Pranken frei laufen läßt, bevor sie das Ende setzt.

Das Leben ist eine Falle mit einem gefährlichen Köder, einem Köder, der selbst das Ende ist, der Hoffnung des Lebens. Auf diese Hoffnung sich verlassen, bedeutet verlassen sein. "Oh Gott, der Du der Vater alles Lebens bist, wie darf das so sein! Er ist doch noch so jung!" Und vor den tränenverschwommenen Augen des Vaters spielt in seiner Phantasie ein kleiner Junge mit einem bunten Ball in der Sonne und ruft: "Papa, warst Du auch einmal jung?"

 

6.

 

"Brüder und Schwestern im Herrn! Niemand von uns kann sich darin schicken, was hier geschehen ist, denn niemand von uns kennt die Geheimnisse Gottes. Wir können nicht sagen, daß Gott dieses junge Leben wirklich zu sich nehmen wollte. Und wir wissen nicht, weshalb er dieses Unglück nicht verhindert hat. Doch! Nicht trauern wollen wir, so schrieb der heilige Hieronymus, daß wir ihn verloren haben, sondern dankbar wollen wir sein, daß wir ihn gehabt haben, ja auch jetzt noch besitzen, denn alles lebt für Gott, und wer in Gott stirbt, bleibt in der Familie und ist nur vorausgegangen.

Wir sind nicht allein in unserem Schmerz, denn wir können uns in sicherer Hoffnung verlassen auf Gott, der zu unserer Errettung ja seinen eigenen Sohn geopfert und dem Tod überlassen hat. Gott kennt unseren Schmerz und leidet mit uns, so wie auch Jesus einst in der Stadt Naim zu der um ihren Sohn trauernden Mutter sagte: ,Weine nicht!" Dieses ,Noli flere", dieses ,weine nicht’ ist für uns Trauernden die Gewißheit, daß mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. Denn dieMacht der Liebe Gottes hebt den Tod auf! So wollen wir einander trösten in dieser Liebe Gottes.

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er schon gestorben ist, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.

Wir Ubergeben den Leib der Erde. Christus, der von den Toten auferstanden ist, wird auch unseren Bruder Michael zum Leben erwecken.

Im Wasser und im Heiligen Geist wurdest Du getauft. Der Herr vollende an dir, was er in der Taufe begonnen hat.

Dein Leib war Gottes Tempel. Der Herr schenke dir ewige Freude.

Von der Erde bist Du genommen, und zur Erde kehrst Du zurück. Der Herr wird dich auferwecken.

Das Zeichen unserer Hoffnung, das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus sei aufgerichtet über Deinem Grab. Der Friede sei mit dir.

 

7.

 

Nun, da der weiße Sarg verlassen in der Gruft stand, schien alles zu Ende, alles sinnlos.

Und wie er auf den Sarg sah, auf das kleine Kruzifix, sprach er zu sich, ganz leise, was

einst vor vielen Jahren ein anderer Vater ähnlich gesagt hatte: "Dieser war mein lieber Sohn, der mir soviel Freude bereitet hatte."

Doch er fügte hinzu: "Weshalb aber ausgerechnet er?"

Denn er beneidete diesen Vater vor vielen Jahren, weil dieser gewußt hatte, weshalb ausgerechnet sein Sohn ein Opfer sein würde. Und er wußte, er würde diese Frage nie mehr loswerden. "Warum gerade er!"
 


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