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Der Junge
und die Wolken

Heribert Ester (C) 1973

Wenn Mr. Tumble Ärger hatte, konnte er niemanden um sich vertragen; er mußte allein sein. So auch heute. Obwohl dieser warme Sommertag so schön begonnen hatte, lief alles falsch.

Mr. Tumble war Chemiker und hatte sich nach langer Arbeit ein eigenes Laboratorium einrichten können. Er hatte nun zwei Mitarbeiter, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen sollten und die er selbst bezahlte. Seine Frau nannte ihn deshalb oft den Direktor des großen Chemiekonzerns Tumble.

Mr. Tumble selbst hielt jedoch nicht viel von solchen Scherzen. Er blieb stets hinter seinen Formeln verborgen, mit denen er einst berühmt zu werden gedachte. Heute allerdings schien er sich wieder weit von diesem Ziel entfernt zu haben. Einer seiner Mitarbeiter hatte durch seine Voreiligkeit eine ganze Versuchsreihe verdorben und somit die Arbeit von zwei Monaten zunichte gemacht. Es war zum Heulen.

Mr. Tumble hatte sich vor den Kopf gefaßt und hätte am liebsten um sich geschlagen, doch in seiner Unfaßbarkeit verließ er das Labor, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Er wollte allein sein. Kein Mensch sollte ihn stören. Draußen atmete er unbewußt die frische Luft in tiefen Zügen ein. Er überlegte einen kurzen Moment und eilte zielstrebig auf den nächsten Park hin. Er kannte den Park und wußte, daß um diese Zeit nur wenige Menschen dort sein würden, weil die meisten noch bei ihrer Arbeit waren. Er hatte Recht. Weit und breit war niemand zu erblicken. Erfreut hierüber – soweit er sich in seiner Lage überhaupt freuen konnte – ließ er sich auf einer der Bänke nieder und genoß die himmlische Ruhe. Doch, als ob er dieser Ruhe nicht traute, schaute er sich seine Umgebung genauer an. Erst jetzt bemerkte er den Jungen, der ihm genau gegenüber auf einer Bank saß. Der Junge mochte wohl sieben oder acht Jahre alt sein, machte einen etwas ärmlichen Eindruck und lächelte ihm freundlich, aber in keiner Weise aufdringlich, zu. Rechts von ihm war ein Blumenbeet und links konnte er durch die Büsche einen Springbrunnen sehen. Er konnte sogar das Wasser plätschern hören. Wasser, H20 – darin könnte die Lösung seines Problems bestehen.

"Entschuldigen sie, Sir, sie sehen so traurig aus. Sind sie auch oft allein?" fragte ihn der Junge, der sich, ohne daß er es bemerkt hatte, neben ihn auf die Bank gesetzt hatte. Das kenne das, Sir, ich bin oft allein. Meine Mutter und ich, wir sind von Vater davongelaufen, weil der immer so böse war. Mutter sagt, ich solle ihn am besten vergessen, wir würden sicher einen neuen Vater finden. Haben sie auch eine Mutter?"

Mr. Tumble, durch diese Frage etwas belustigt, lächelte den Jungen an und sagte: "Gewiß habe ich eine Mutter, aber die ist schon lange tot, und wenn sie noch leben würde, wäre sie bestimmt eine ganz alte Dame mit grauen Haaren und einer runzeligen Stirn."

Der Junge lachte. "Sind sie traurig?"

"Wieso sollte ich denn traurig sein?"

"Sie machten vorhin so ein trauriges Gesicht. Sie sind doch traurig?"

Obwohl Mr. Tumble sich keines traurigen Gesichtes bewußt war, mußte er doch zugeben, daß er tatsächlich traurig war. "Du hast Recht, mein Junge, ich bin traurig. Als ich vorhin mein Labor verließ, war ich noch ärgerlich, doch auf dem Weg hierher hat sich mein Ärger gelegt, und nun bin ich traurig. Aber du bist doch hoffentlich nicht traurig?"

"Nein, heute nicht. Heute bin ich glücklich, weil es so ein schöner Tag ist. Sehen sie doch nur mal die Wolken, Sir, sehen sie sich diese schönen Wolken einmal an!"

Gehorsam sah Mr. Tumble nach oben, und er sah den blauen Himmel, an dem riesige weiße Wolken entlangzogen. "Ja, die sind wirklich schön. Aber jetzt sag mir einmal, weshalb du so allein hier im Park sitzt!"

"Wo soll ich sonst hingehen? Sehen sie, Sir, ich gehe morgens in die Schule und komme am Nachmittag zurück. Zu dieser Zeit ist meine Mutter aber noch in der Fabrik. Sie macht Schuhe. Hier sehen sie, diese hat sie einmal mitgebracht, und sie hat die Sohle angenäht. Ich warte immer hier im Park, bis Mutter aus der Fabrik kommt."

"Ja, hast du denn keine Freunde, mit denen du spielen kannst?"

"Mit mir will keiner spielen. Die Nachbarn sagen ihren Kindern, mit mir sollten sie nicht spielen, weil Mutter und ich von Vater weggelaufen sind, und weil ich eine Warze in der Hand habe. Ekeln sie sich vor Warzen?"

"Nein."

"Meine Mutter auch nicht. Sie sagt, daß so eine Warze gar nicht so schlimm ist, und wenn man nicht mehr daran denkt, würde sie von selbst verschwinden. Aber trotzdem spielt niemand mit mir. Deshalb gehe ich auch immer in den Park. Hier gibt es Blumen und Bienen und den Springbrunnen, und alles lebt und läuft trotzdem nicht fort, wenn ich komme. Und an so einem schönen Tag wie heute sind die Wolken da. Wissen sie, daß die Wolken manchmal ganz bestimmte Gestalten annehmen? Mal wie ein Hund oder ein Pferd, eine Blume oder ein Wasserfall, und wenn es ein ganz schöner Tag ist, bilden die Wolken ein riesiges Schloß, und man könnte meinen, das sei das Schloß, in dem der Liebe Gott wohnt: so hoch über der Erde und überall Sonne, in jeder Halle, in jedem Raum. Der Liebe Gott muß es sehr schön dort oben haben, wie in unserer Kirche, nein, noch schöner. Mutter und ich, wir gehen sonntags immer zur Kirche. Sonntags braucht flutter nämlich nicht in die Fabrik. Ich gehe gern mit ihr in die Kirche, auch wenn die anderen Jungen immer sagen, wir dürften das nicht, weil wir von Vater weggelaufen sind. Ich glaube nicht, daß der Liebe Gott böse mit uns ist, weil wir von Vater weggelaufen sind. Glauben sie auch an den Lieben Gott?"

Mr. Tumble wollte schon "ja" sagen, aus der Gewohnheit kam das so. Sicher glaubte er an Gott, aber sicher nicht in der Weise wie der Junge. In welcher Weise aber dann? Natürlich, daß ihm das nicht gleich eingefallen war! Er glaubte so, wie er das als Junge gelernt hatte. Sein Glaube hatte sich dann wie der der anderen Jungen seiner Klasse entwickelt; sie sind zur Kirche gegangen, erst regelmäßig, dann weniger regelmäßig und dann regelmäßig nicht. Aber trotzdem glaubte er an Gott. Gott ist das Höchste, und Gott hat die Macht.......

Bei diesen Gedanken schlug eine Turmuhr.

"Oh, ist es schon so spät?" unterbrach ihn der Junge in seinen Gedanken. "Ich muß jetzt nach Hause. Mutter kommt aus der Fabrik, und da muß ich es schön für sie machen. Aber wenn sie nocheinmal traurig sind, dann sehen sie sich die Wolken an! Auf Wiedersehen!"

Der Junge lief fort, und Mr. Tumble hatte einiges zu überdenken. Er wollte gerade seine Gedanken weiterführen, als er das Bremsen eines Autos und einen dumpfen Schlag hörte. Er lief zur Straße. Dort lag vor dem Wagen der Junge, mit dem er eben noch gesprochen hatte. Er lief zu ihm. Der Junge lebte. Er beugte sich über ihn und nahm ihn in den Arm. Eine Menschenmenge versammelte sich um sie. Er hörte die Rufe der Menge nach Polizei und Krankenwagen nicht. Er achtete auf die Worte des Jungen. Sie kamen ganz leise. "Sehen sie doch nur! Die Wolken! Sie haben wieder ein Schloß gebildet. Das Schloß des Lieben Gottes. Sehen sie! Das Tor geht auf! Ich kann den Lieben Gott sehen. Er winkt mir. Hinter ihm sind lauter Engel. Ich glaub, wenn er mir winkt, muß ich zu ihm gehen. Sagen sie bitte meiner Mutter, daß ich sie gern hab und daß ich auf sie warte! Bitte sagen sie ihr das!"

Mit zuckenden Lippen brachte Mr. Tumble ein "ja" hervor. Der Junge hörte es, nickte freundlich und sagte kaum vernehmbar: ",Danke." Dann war er tot.

Und als Mr. Tumble zum Himmel blickte, sah er ein Schloß aus Wolken.

Nachdem der Krankenwagen den Jungen fortgebracht hatte, ging Mr. Tumble nach Hause und fragte sich, weshalb er den Jungen vorher nie gesehen hatte.

Er war doch auch so oft im Park gewesen.

 


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