Ein Papst »vor den Mauern«
Johannes XXIII.

Von Petra Gaidetzka

»Johannes der Gute«, so wurde Angelo Giuseppe Roncalli allgemein genannt, und kein Papst ist bei seinem Tod von der Welt so betrauert worden wie Johannes XXIII., dessen Pontifikat nur viereinhalb Jahre dauerte.
Seine Wahl überraschte Kirche und Öffentlichkeit; man sprach von einem Übergangspapst. Und doch begann mit Johannes XXIII. ein neuer Abschnitt der Kirchengeschichte.
Mit seiner Forderung nach einem Aggiornamento, einer Anpassung der Kirche, der Theologie und des Glaubenslebens an die moderne Zeit, stieß Johannes die Türen zur »Welt« weit auf.
Auch wenn seitdem immer wieder versucht wurde, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, sind diese Türen doch nie mehr geschlossen worden. Die Impulse, die vom 2. Vatikanischen Konzil ausgingen, wirken weiter. [...]

Angelo Roncalli war Kirchenhistoriker und Patrologe; das heißt, er lebte mit und aus den Quellen des christlichen Glaubens. Als Sanitäter und Militärseelsorger erfuhr er die Schrecken des Krieges und erkannte gleichzeitig, daß das gemeinsam getragene Leid die Christen aller Konfessionen in der Verantwortung für eine gerechtere und friedvollere Welt verbinden mußte. Er war Politiker und Diplomat; er wußte, daß die Kirche als gesellschaftlich verfaßte Institution ihre Rolle in der Welt von heute zu spielen hat. Zugleich war er Seelsorger: Als er in seine Bischofsstadt Venedig einzog, bat er seine Diözesanen, in ihm »nur den Seelenhirten zu sehen, der berufen ist, seine Sendung an den kleinen Leuten zu erfüllen gemäß dem Auftrag des Herrn.« 1

Johannes XXIII. sah sich als »Bruder der Bischöfe«, nicht als absolutistisches Oberhaupt einer straff auf Rom hin ausgerichteten Kirche. Er brachte frischen Wind in die lange ungelüfteten Amtsstuben der Kurie. Die ökumenischen Kontakte lagen ihm besonders am Herzen. 1960 traf er mit dem anglikanischen Erzbischof von Canterbury zusammen. In seiner Enzyklika »Pacem in terris« trat er für die friedliche Koexistenz der Staaten in Ost und West ein.

Johannes verstand sich im wahrsten Sinn des Wortes als »Pontifex«, als Brückenbauer. Sein größtes Anliegen aber war das Allgemeine Konzil, das er im Oktober 1962 eröffnete und nur noch während der 1. Sitzungsperiode begleiten konnte.

Johannes XXIII. war der »Papst der Öffnung«. Das wurde in vielen Gesten deutlich. Eine Woche vor Konzilsbeginn begab er sich nach Loreto und Assisi, um dort für das Gelingen des großen Vorhabens zu beten. Er setzte damit der »freiwilligen« Gefangenschaft des Papsttums im Vatikan ein Ende. Seit dem Verlust des Kirchenstaates 1870 hatten sich die Päpste ganz auf das vatikanische Territorium zurückgezogen. Die Römer nannten ihn deshalb »Giovanni fuori le mura«, Johannes vor den Mauern.

Angelo Roncalli, Johannes XXIII., erwarb sich Sympathien durch seine schlichte Frömmigkeit, seinen Humor und seine Herzlichkeit. Aber er war auch ein kluger »Hausvater«, der die kirchliche Verwaltung reformierte, ohne die Fundamente, auf denen sie seit Jahrhunderten ruhte, zum Einstürzen zu bringen.
Er zeigte politischen Weitblick und zeichnete sich durch seinen persönlichen Mut und seine geistige Frische aus.

Die meisten seiner Pläne konnte er nicht mehr zur Ausführung bringen. Doch er hat der Kirche Anregungen und Anstöße mit auf den Weg gegeben, die für uns Heutige ein großes Vermächtnis darstellen, vor allem im Hinblick auf die Ökumene, auf den Dialog mit den gesellschaftlichen Kräften, die in der Welt wirken, und die Auseinandersetzung mit den politischen und weltanschaulichen Systemen.

Daß es gar nicht so einfach ist, sich zu öffnen und dem »Wehen des Heiligen Geistes« standzuhalten, wenn es lebhafter ausfällt als erwartet, das hat die kirchliche Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte gezeigt.

Als Christen dürfen wir uns aber nicht in ein Ghetto zurückziehen, in die Nestwärme einer relativ geordneten und überschaubaren Welt, und Fenster und Türen ängstlich verschlossen halten. »Ihr seid das Salz der Erde«, sagt Jesus. »Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus« (Mt 5,13-15). Johannes XXIII. sah die Kirche als »Stadt auf dem Berge«.

Immer wenn wir heute in Gefahr sind, uns auf uns selbst zurückzuziehen und innerkirchliche Nabelschau zu betreiben, statt uns den drängenden Problemen unserer Zeit zu stellen, sollten wir uns an Johannes und seinen Aufruf zum Aggiornamento erinnern. Er hat uns gelehrt, auch dort Partner zu suchen, wo wir bisher durch Berührungsängste und Vorurteile blockiert waren – im Interesse einer menschlicheren, gerechteren, vom Geist Christi durchdrungenen Welt.

1 Zitiert bei J. Gelmi, die Päpste in Lebensbildern, Graz 1983, 237

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Der Beitrag ist erschienen in der Zeitschrift
»Gottes Wort im Kirchenjahr« 2/1991, S.  221f
Verlag Echter, Würzburg

Petra Gaideztka hat noch einen weiteren Beitrag zur Verfügung gestellt, der vorerst an dieser Stelle zu finden ist: »Christus lebt weiter, und die Kirche setzt sein Werk fort« – Johannes XXIII.

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